Retail Insights

„Wir brauchen Lösungen“

Niels Lorenz
Niels Lorenz
Niels Lorenz in der Eingangshalle der Radeberger-Gruppe in Frankfurt.
Bildquelle: Carsten Hoppen.

Niels Lorenz, Sprecher der Geschäftsführung der Radeberger-Gruppe, stellt sein Unternehmen auf die Zukunft ein. Mit der Lebensmittel Praxis sprach der Manager darüber, wie man mit Künstlicher Intelligenz mehr Bier verkaufen kann, welche Ambitionen die Radeberger-Gruppe mit dem Lieferdienst Durstexpress hat und warum der Klassiker Clausthaler eine zweite Chance verdient.

Herr Lorenz, Digitalisierung ist bei der Radeberger-Gruppe kein einfaches Schlagwort, sondern die zentrale Triebfeder von vielen aktuellen Aktivitäten. Warum kommt gerade jetzt diese Dynamik?

Niels Lorenz: Wir erleben aktuell eine grundsätzliche Veränderung der Märkte, des tradierten Wettbewerbs. Nicht nur in der Getränkebranche werden Händler zu Herstellern, Hersteller zu Händlern, digitale Unternehmen engagieren sich stationär und der stationäre Handel betreibt sein Geschäft auch im Internet. Wir müssen uns die Frage stellen, wie man sich in einer solch dramatisch verändernden Welt aufstellt. Unsere Antwort ist: ein Angebot von möglichst gesamtheitlichen Lösungen.

Geben Sie ein konkretes Beispiel!

Nehmen Sie den B2B-Bereich: Ein Gastronom will heute nicht mehr nur ein einzelnes Produkt, er will ein ganzes Portfolio an alkoholhaltigen und alkoholfreien Getränken. Hinzu kommt idealerweise ein attraktives Food-Angebot. Zu guter Letzt will er eine einfache Lösung für alles Administrative. Ein modernes Kassensystem, Buchhaltung, Reservierungssystem, Personalplanung, … Es gibt einen ganzen Strauß an Themen, mit denen wir ihm die Arbeit erleichtern können, so dass er sich wieder auf das Eigentliche konzentrieren kann: Gastgeber zu sein.

Die Digitalisierung entwickelt beim Bestellvorgang eine große Dynamik. Warum soll im geschäftlichen Bereich nicht möglich sein, was im privaten (Amazon, Zalando et cetera) schon lange Standard ist? Eine Abwicklung über den Notizblock ist nicht mehr zeitgemäß.

Um für all diese Anforderungen möglichst komplette Lösungen anbieten zu können, haben wir kürzlich mit Transgourmet Deutschland ein Joint Venture gegründet.

Ihre Zusammenarbeit mit Transgourmet Deutschland wird den Lebensmittel-Einzelhandel (LEH) nicht tangieren. Dessen Warenwirtschaftssysteme sind bereits hoch systematisiert. Sehen Sie dadurch möglicherweise weniger Wachstumspotenziale bei Edeka, Rewe und Co.?

Klares Nein. Wir machen den überwiegenden Teil unseres Geschäftes im Lebensmittel-Einzelhandel – und was Volumen und Geschäftsperspektive angeht, wird das auch in Zukunft das dominierende Standbein bleiben. Mit Blick auf unseren Partner Lebensmittel-Einzelhandel stellen wir uns heute viel mehr die Frage: Wie können wir es erreichen, dass die Wertschöpfung, die wir heute noch gemeinsam haben, nicht irgendwann einem Dritten zukommt?

Auch wenn Sie den LEH als Partner bezeichnen, mit Durstexpress haben Sie in Berlin einen Lieferservice gestartet, der faktisch eine Konkurrenz zu den Supermärkten darstellt.

Wir haben mit Getränke Hoffmann ja selbst ein stationäres Einzelhandelsgeschäft. Diese stationäre Welt müssen wir multichannelfähig machen. Ohne die digitale Facette wird es keine Zukunft geben. Wir wollen die Speerspitze solcher Modelle sein: Der Markt bewegt sich mit unglaublicher Dynamik – und wir sind ehrlich gesagt froh, dies mit eigener finanzieller Kraft bewerkstelligen zu können. Aber: Wir sind immer an partnerschaftlichen Lösungen interessiert. Wir wollen unsere jahrzehntelange Partnerschaft mit dem LEH auf allen Ebenen intensivieren und uns nicht gegeneinander aufstellen. Was die Zukunft da noch so alles bringen könnte, kann ich jetzt noch nicht sagen.

Was ist an einem Lieferdienst im Jahre 2018 so spektakulär?

Was wir gerade mit Durstexpress aufbauen, hat nichts mit der klassischen Getränkelieferung von vor ein paar Jahren zu tun. Die Händler damals hatten ein reduziertes Angebot, man musste langfristig planen und unter Umständen einen ganzen Samstag zu Hause warten. Mit unserem Service liefern wir innerhalb von 90 Minuten, ohne Zusatzkosten zu marktüblichen Preisen – und das Leergut nehmen wir auch wieder mit.

Sie sind also schneller und billiger. Worin unterscheiden Sie sich sonst noch vom klassischen Modell?

Durstexpress ist voll durchdigitalisiert. Von der Kommissionierung über den Tourenplan und die Auslieferung: Alles beruht auf Künstlicher Intelligenz und digitalen Prognosemodellen. Es gibt kaum noch menschliche Schnittstellen in dem ganzen Prozess. Die KI macht Dinge möglich, die vor wenigen Jahren noch undenkbar waren. Sie bestimmt unter anderem, wann der Fahrer welche Abzweigung nimmt, plant das Personal vollautomatisch, setzt die Abrechnung automatisiert um und legt fest, wann welcher Artikel zur Nachbestellung ansteht.

Ihre Handelssparte Getränke Hoffmann hat den Sitz in der Nähe von Berlin. Aber davon abgesehen, ist die Hauptstadt für ein solches Angebot sicher ein schwieriges Umfeld, oder?

Berlin ist alleine schon logistisch mit seinen vielen Baustellen eine Herausforderung für eine Belieferung mit einem kleinen Zeitfenster. Davon abgesehen ist Berlin eine ziemlich „laute“ Stadt. Wenn der US-Präsident zu Besuch kommt, ist es zum Beispiel schwierig, bei den Leuten mit einem neuen Geschäftsmodell durchzudringen. Aber wir sind sehr optimistisch. Von Monat zu Monat haben wir tolle Zuwachsraten und sehr positive Bewertungen auf unabhängigen Portalen wie trustedshops.de. Wenn wir es schaffen, uns in Berlin zu etablieren, dann können wir es überall schaffen!

Bei allem technologischen Optimismus: Ein Problem wird die KI (noch) nicht lösen, nämlich, dass den Spediteuren die Fahrer ausgehen.
Wir durchleben hier in der Tat eine sehr anspruchsvolle Zeit. Gerade bei gutem Wetter und vielen Feiertagen steht nicht genügend Frachtraum zur Verfügung. Fahrermangel ist weit weniger harmlos als es zunächst klingt. Das Knirschen in der Supply-Chain ist deutlich zu hören.

Woher kommt denn die Krise der Logistik?

Durch die Abschaffung der Wehrpflicht werden weniger Männer zum Kraftwagenfahrer ausgebildet. Gleichzeitig kommen weniger Fahrer aus Osteuropa, weil diese Länder gerade einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben. Für uns Brauereien kommt die Besonderheit der Mehrweglogistik hinzu: Also vor allem das Leergutmanagement. Die Brauereien haben zu Spitzenzeiten Probleme, ihre leeren Flaschen zeitgerecht zurückgeführt zu bekommen. Aber auch der Handel steht aufgrund der Flut kleinerer Verpackungseinheiten und Einzelflaschen vor besonderen Herausforderungen.

Niels Lorenz
Bildquelle: Carsten Hoppen.

Was tut der Marktführer, um den Mehrwegpool zu stabilisieren?

Auch wenn wir selbst Individualflaschen führen, wollen wir dafür Sorge tragen, in Deutschland eine Logistik zu haben, bei der auch in Zukunft die Flaschensortierung beherrschbar ist. Daher haben wir uns an dem größten Sortierer Deutschlands beteiligt: der H. Leiter GmbH. Wir wollen auch bei diesem Thema Akteur sein und nicht nur zuschauen, wie sich die Dinge entwickeln. Das Gleiche gilt für unseren Logistiker Getränke Essmann. Historisch hatten solche Unternehmen ja die Aufgabe, Vollgut in die Märkte zu bringen. Heute ist die größere Herausforderung, das Leergut aus den Outlets wieder herauszuholen, zu sortieren und den Brauereien und Mineralbrunnen auf die Höfe zu liefern. Ähnlich wie bei den Gastronomen wollen wir dem Händler die Arbeit abnehmen und eine ganzheitliche Lösung anbieten. Wer die Probleme bei Voll- und Leergut löst, ist auch in Zukunft erster Ansprechpartner. Das ist ein Erfolgsfaktor für die Zukunft. Ich bin froh, dass sich unser Wertschöpfungsmodell nicht „nur“ auf die Brauerei beschränkt, sondern dass wir an der gesamten Supply-Chain beteiligt sind und diese auch mitgestalten können. Darin liegt die Zukunft. Die Marke oder ein innovatives Neuprodukt alleine reichen nicht mehr.

Das Wachstum ist auch nur eine Momentaufnahme. Durch diesen guten Sommer wird sich ja nicht der generell rückläufige Bierkonsum ändern. Ich fürchte eher, dass es die Branche im nächsten Jahr umso heftiger treffen könnte. Man sollte nicht vergessen: Die deutschen Brauer haben in zehn Jahren rund 13 Millionen Hektoliter verloren. Das ist ungefähr das Volumen unserer Braugruppe. Anders ausgedrückt: Alle zehn Jahre verschluckt der Markt seinen Marktführer. Dagegen kann auch ein einzelner warmer Sommer wenig ausrichten.

Vom Rückgang sind vor allem die großen nationalen Pils-Marken betroffen. Wie steuern Sie gegen?

Wir setzen mittlerweile stark auf regionale Marken wie Büble, Ur-Krostitzer, Berliner Kindl oder unsere Dortmunder Biere, um nur ein paar zu nennen. Dadurch können wir uns dem rückläufigen Trend ganz gut entziehen. Ich glaube, der Trend zum Regionalen wird sich fortsetzen und sich möglicherweise weiter verändern, hin zum Lokalen. Nach unserer festen Überzeugung gibt es also noch Möglichkeiten, auch im Bier-Geschäft zu wachsen.

Das gilt auch für alkoholfreie Biere. Clausthaler war 1979 die erste ausschließlich alkoholfrei gebraute Marke. Treiber sind heute aber andere Namen. Sie steuern jetzt mit Investitionen, etwa in neue Sorten, gegen.

Wie dynamisch sich der Markt bewegt, können wir selbst bei unserem Jever Fun, der Nummer Zwei im Markt, sehen. Aber uns blutet natürlich das Herz, wenn Clausthaler, das Original und der Innovator, seine einstige Vorrangstellung verloren hat. Wir sehen aber eindeutige Potenziale, auch und besonders aufgrund des immer wieder prämierten Geschmacks, die reaktivierbar sind. Die Markensubstanz ist vital. Clausthaler steht für Kompetenz, Spezialistentum und Glaubwürdigkeit. Hinzu kommt die nach wie vor sehr hohe Markenbekanntheit.

Kürzlich wurde das Portfolio um die Variante Naturtrüb erweitert. Werden wir noch weitere Neuigkeiten sehen?

Ganz aktuell steht zunächst der Roll-out eines neuen Kastens für Clausthaler an. Das ist eine große Investition und zeigt, dass wir es ernst meinen, dass wir an die Marke glauben. Im Übrigen fangen auch viele unserer sonstigen rund um die Marke ergriffenen Maßnahmen, zum Beispiel die TV-Präsenz, an, zu greifen. Wir haben einen Absatz mit dem richtigen Vorzeichen und wollen die Dynamik mit dem neuen Kasten jetzt mitnehmen und verstärken.

Nochmal zurück zu Ihrem Kern-Geschäft: den großen Pils-Marken. Sie sind bei der jüngsten Preiserhöhung Anfang dieses Jahres mitgegangen. Das wird von den Konsumenten in der Regel sofort abgestraft. Warum war dieser Schritt trotzdem unausweichlich?

Mitgegangen ist nicht das richtige Wort. Wir waren zuvorderst dabei, als es um eine Erhöhung ging. Preiserhöhungen sind immer eine schmerzvolle Erfahrung. Wir haben dadurch trotz des starken Sommers eine negative Entwicklung bei Radeberger Pilsner.

Wir müssen diesen Weg aber gehen, um zu verhindern, dass der Kasten in der Aktion dauerhaft unter die Zehn-Euro-Schwelle rutscht, denn das höhlt auf Sicht die Markensubstanz aus. Dann aber können Sie dem Premium-Anspruch eines nationalen Pils-Bieres auch nicht mehr gerecht werden.

Der Preis hat auch etwas mit der Wertigkeit unserer Pils-Marken zu tun. Wir werden nicht müde, beim Verbraucher unseren Qualitätsanspruch zu unterstreichen. Wir sind froh, die Kraft zu haben, das Credo „Marge vor Menge“ auch durchsetzen zu können. Das wird langfristig, da bin ich sicher, auch vom Verbraucher honoriert. Aber so eine Strategie ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf.

Wie entwickelt sich denn Ihr Geschäft insgesamt?

Es ist bei uns Tradition, dass wir keine konkreten Zahlen veröffentlichen. Aber lassen Sie es mich mal ganz traditionell ostwestfälisch formulieren: Unser Absatz entwickelt sich recht ordentlich.